Handbuch der Erfolglosen - Jahrgang zweitausendundelf

Handbuch der Erfolglosen - Jahrgang zweitausendundelf - Patricia Görg

224 Seiten, Gebunden
Berlin Verlag 2012
ISBN-13: 9783827010827

Beschreibung

Das Jahr, in dem der deutsche Ausstieg vom Ausstieg aus dem Atomausstieg beschlossen wurde, der Euro gerettet werden sollte und Nordafrika sich umkrempelte. Aufgefordert dazu, ein Tagebuch zu schreiben, notierte Patricia Görg wöchentlich die hereinflutenden Medialitäten und ergänzte sie um Erlebnisse mit Künsten und Wissenschaften sowie um fast erfundene Fallgeschichten, deren Helden, wie wir alle, letztlich erfolglos bleiben müssen. Entstanden ist nicht nur die Chronik eines bewegten Jahres, sondern auch ein lehrreiches Brevier des Normalen, in dem sich Revolutionen, Rücktritte, Unfälle und Finanzmarktpaniken abwechseln. Also: ein Handbuch. Während Teilchenbeschleuniger versuchen, ins Innerste der Materie vorzustoßen, Hirnforscher Illusionen entlarven, Archäologen alte Götter zusammenkleben und Osama bin Laden erschossen wird, überlegt eine Figur namens Großmann unverdrossen, ob sie die ganze Wirklichkeit nicht einfach für zwei Pfennige kaufen soll.

Laudatio

Auszüge aus der Laudatio von Wilfried F. Schoeller

anlässlich der Verleihung des Schubart-Literaturförderpreises
an Patricia Görg für ihr „Handbuch der Erfolglosen“
am 24.3.2012 in Aalen

(…)
Erfolglosigkeit ist hier nicht nur mit einzelnen Figuren verbunden, sondern auch ein Rayon an sich, in den die Tentakel der Neugier hineintasten.
In ihren Worten: „Gleichmut ist aber vor allem vonnöten für jene Erfolglosigkeit, für jene sanfte, lebensimmanente Form des Scheiterns, die jedem widerfährt, und sei er noch so weit gekommen. Sie ist das eigentliche Wissensgebiet, das wir durchqueren.“ Noch ist bei Patricia Görg die alte Frage des Diaristen lebendig, was man als Einzelner wissen und versammeln kann, und auch dieses Manual ist eine Erkundungsprobe auf die unendliche Enzyklopädie der Gegenwart.
(…)
Man könnte sagen: die Moral dieser Diaristin ist die Wachsamkeit, die szenische Neugier, die exakte Beobachtung. Da gibt es keine Befindlichkeitssauce, kein Tremolo der Betroffenheit, keine Wonnen der Selbstbeschau. Görg kommt ohne solche Ichgefühle aus. Ihr Ich ist ihr Auge, ihre Kunst besteht in ihrer Ausstattung mit einer Art Facettenblick.
Ihre Exkursionen und Fallgeschichten, die die Kalenderwochen-Notate umringen, sind am besten, wenn sie etwas von der Theatralik des Lebens preisgeben können. Bei dieser Prosaistin kann man studieren, wie ungemein szenisch die Wirklichkeit ist. In vielen Tagebüchern jagen einander die Katastrophen, bei ihr liegt der Nachdruck auf den Bildern, die sie hinterlassen: die realen und die vorgestellten, da gibt es keinen Unterschied.
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Ihre Spottlust durchdringt den kalendarischen Ernstfall. Bestechend komisch etwa die anderthalb Seiten „Der Schwerbelastungskörper“, eingeleitet mit der Devise: „Oftmals geht Geschichte schief. Dann hinterlässt sie Elefantenfüße.“ Es geht ausschließlich um ein gigantisches Relikt: einen Betonbrocken in einer Kleingartenkolonie, der die Belastungsfähigkeit des märkischen Bodens für Hitlers Reichshauptstadt Germania nach dem Endsieg testen sollte. So etwas muß man erst mal auffinden – oder erfinden, gleichviel.
Zwischen Absonderlichkeiten und der Forschung über die Entstehung der Materie strahlt diskret die Ironie; diese Autorin stöbert, welch ein Vergnügen an Leichtigkeit, auch in den Abwegen des Kalenders und im grotesken Hintersinn des Geschehens.
(…)
Eine schöne Gelegenheit hat uns dieses Buch zugetragen. Solche kleinen Wunder gibt es auch in unserem so durchsichtig erscheinenden Literaturbetrieb. Patricia Görg erhielt das Stipendium eines Hamburger Stifters, das sie zur Abfassung eines Tagebuchs verpflichtete. Eine Auftragsarbeit also, doch eine so passende Verpflichtung, daß man behaupten könnte: Patricia Görg hat sich dieses Jahr nicht ausgesucht, die zwölf Monate haben sich diese Autorin gewählt, damit sie ihre Tatsachenphantasie und ihren sprühenden Witz an den Zeitläuften, an ihren Haupt- und Staatsaktionen, an ihren Eckenstehern und ihren Nischenfiguren erprobe.
(…)

Rezensionen

Patricia Görg hatte einen Auftrag. Sie sollte über ein Jahr, das Jahr 2011, hinweg Tagebuch führen. Man kann sich einer solchen Aufgabe stellen, indem man das tut, was man als Schriftsteller immer tut. Man kann sich aber auch eine Form überlegen, in der das eigene Schreibtemperament sozusagen auf das Jahr losgelassen wird (oder umgekehrt) und aus der Begegnung von beidem sich etwas Außerordentliches ergibt. So ist Patricia Görg verfahren, und herausgekommen ist das „Handbuch der Erfolglosen“, ein wunderbar leichtes, böses, witziges Manual, worin nicht nur das Jahr, das wir allzu gut kennen, sich spiegelt, sondern vielerlei Unerwartetes zur Sprache kommt. (…)
Woran wird man beim Lesen von Görgs klugen, kühnen, witzigen Geschichten erinnert? Ein bisschen an Alexander Kluges neue und neueste Geschichtensammlungen. Nur dass, kaum wagt man es auszusprechen, ihre Geschichten besser sind, weniger ausufernd, weniger verquast, sozusagen besser gescheitert. Und noch etwas fällt einem auf: Wie interessant eine Literatur ist, in der nicht, wie seit immer, „die Marquise um fünf Uhr aus dem Haus“ geht, um Valéry zu zitieren, eine Literatur also, in der nur erzählt wird, was zu erzählen notwendig ist und nicht, was die Figuren anhaben, wenn sie aus dem Haus gehen. Eine Literatur, in der so viel Raum für das Denken ist wie für das Erzählen.
Schade, dass Patricia Görgs Tagebuchjahr so schnell vorbei war.
Christoph Bartmann, Süddeutsche Zeitung, 17. April 2012

Sie habe nun mal „kein Naturell für lange epische Bögen“, sagt Patricia Görg, um zu erklären, warum keines ihrer Bücher bisher die Gattungsbezeichnung Roman trug. Sie liebe eher collagenartige Strukturen, in denen die verschiedenen Textteile und Textsorten miteinander in Kontakt treten. Vielleicht liegt da der Grund, warum eine der klügsten deutschen Autorinnen trotz bester Kritiken bisher nicht die Aufmerksamkeit findet, die sie verdient hätte. Dabei ist die Lektüre ihrer Bücher keineswegs mühsam. Im Gegenteil, das Vergnügen, das sie bieten, ist erheblich. (..)

Das Journal des Jahres 2011 allein anhand der deutschen und internationalen (Medien-)Wirklichkeit zu beschreiben, wäre einfach zu platt gewesen. Patricia Görg greift weiter aus. Sie beneidet den Prof. Dr. Siegfried Bethke vom Max-Planck-Institut für Physik „um die scheinbar unkündbare Geborgenheit in seiner Materie“ und um die Fraglosigkeit seiner Fragestellungen. Ihr beißender Spott gilt den drei vermummten ETA-Vertretern, die den Waffenstillstand verkünden und offenbar glauben, „sie könnten eines schnellen Tages das autonome Baskenland auspacken wie eine Tafel Schokolade“. Sie führt uns die fruchtlose Podiumsdiskussion zwischen dem rumänischen Filmemacher Andrej Ujica und dem Medientheoretiker Friedrich Kittler vor, deren Scheitern keines Kommentars bedarf. (..) Sie führt uns aber auch in die weit entfernte Welt der Exoplaneten, die so heißen, weil sie nicht mehr zu unserem Sonnensystem gehören. (..) Dass das Scheitern keineswegs die Ausnahme sei, sondern das Normale, hatte Botho Strauß schon 1977 in seinem besten Buch „Die Widmung“ notiert. Bei aller Klarheit und Kühle des Blicks führt uns Patricia Görg das allerdings ohne Häme vor. (..) Das eigentliche Kernstück dieses hinreißenden Journals findet sich auf den Seiten 103 bis 105. Es handelt sich um eine Hommage an Olli Dittrich, vulgo Dittsche. Allein diese drei Seiten lohnen schon den Kauf des Buches. Das perlt.
Jochen Schimmang, taz, 2. Mai 2012

„Man muss etwas genauer hinsehen, durch das Triëdere von Patricia Görg, um aus dem feinen Textgewebe nicht etwa medienkritische Glossen, scharfzüngige Kolumnen über kalendarische Ereignisse des Jahres 2011 herauszulesen. Patricia Görg rückt den Schlagzeilen und Bildern mit dichtender Schere zu Leibe, vergrößert die Ausschnitte, belichtet und montiert das Material zu einem apokalyptischen Panoptikum. (..) Alles steht mit allem irgendwie in Verbindung. Wir lernen die Strömungen des Plastikmülls im Ozean kennen und wie uns der Plastikmüll allmählich einkreist, um wenige Seiten später die Poetik Peter Kurzecks als eine zu begreifen, die einen scheinbar uferlosen Stoff organisiert. Man kann nur hoffen, was die Autorin in ihrem Apokryph verspricht: dass weitere 52 Kalenderwochen bald wieder beladen werden.“
Sasan Seyfi, Lesarten, 22. April 2012

„Der verführerische Charme dieser Geschichten vom Dauernden und Flüchtigen entsteht aus einer Prosa, die hochkarätige Reflexion und unprätentiöse Naivität auf fast heimtückische Weise verschränkt. Alle Versuche, dieser Sprachbezirzung zu entgehen, schlagen natürlich fehl, und so reiht sich der Leser auch in dieser Hinsicht freudig unter die ‚Erfolglosen‘ ein, denen das Buch gewidmet ist.“
Alexander Altmann, Landshuter Zeitung, 22. Sept. 2012

„Die Kunst der Autorin liegt nicht in der bloßen Reihung, sondern in der Montage der Einzelheiten im Detail, in der Art, wie sie sich kommentieren – und wie sie auch von Patricia Görg kommentiert werden. (..) Den Theaterintendanten Ulrich Khuon hat sie sagen hören: ‚Jeden Tag gehe ich ins Theater und arbeite weiter. Schritt für Schritt. Und eines Tages bin ich wieder weg.‘ Das Zitat gibt den Ton vor, auf den dieses Buch gestimmt ist. Es ist ein Buch über das ernüchterte Weitermachen, nicht über das Pathos eines Sisyphus, der seinen Stein immer wieder einen Hang hinauf zu rollen versucht.“
Michael Schmitt, Deutschlandfunk, 27. Juli 2012